Kem (Кемь) wird mit einem soften J hinter dem K und einem noch softeren hinter dem M ausgesprochen. Und Kem ist ein Durchgangsort. Wer nicht in Kem lebt, für den ist die Stadt ein Zwischenstopp auf der Reise zu den Solowezki Inseln. Der Fährhafen, von dem aus die Touristen zu den geschichtsträchtigen Inseln gefahren werden, ist nur wenige Kilometer entfernt und einfach und günstig mit dem Bus zu erreichen. Jeder und jede mit dem wir ins Gespräch kamen, kam entweder von den Inseln, oder würde am nächsten Tag hinreisen. Wir gehörten zu Ersteren. Wir haben Pouncer, Charlotte und Svarte auf den Inseln verabschiedet, um nun über Land wieder in Richtung Schweden zu reisen.
Eigentlich schade für Kem, so ein Durchgangsort sein zu müssen. Mit mehr Zeit, hätte ich mir gern die Umgebung angeschaut: Die Küste und die nicht endenden Wälder. Aber wir beschränkten uns auf die Erkundung des Ortes selbst.
Kem und das Wasser
Kem liegt am Wasser. Am Weißen Meer, auf dem wir zwei Tage vorher noch segelnd unterwegs waren. Und auch an der Flussmündung des Kem-Flusses, nach dem die Stadt benannt ist. Der Stadt vorgelagert, ist eine wunderschöne Schärenlandschaft, die wir von der Fähre aus bestaunen konnten.
Lange waren Fischerei, Schiffsbau und Jagd die Einnahmequelle der Bevölkerung. Heute ist es hauptsächlich Forstwirtschaft und Holzverarbeitung. Das Fischen ist wirtschaftlich kaum noch tragbar. Das umliegende Wasser wird aber dennoch genutzt: Kem ist durch seine „Kemer Kaskade“ (das sind mehrere Wasserkraftwerke entlang des Flusses) bedeutend für die Energiegewinnung der Region.
Früher und heute
Das kleine russische Kem liegt im Norden der Republik Karelien. Wahrscheinlich schon seit dem 14. Jahrhundert, was Kem zu einer der ältesten Städte im russischen Norden machen würde. Es gab eine Zeit, in der Kem als Festung genutzt wurde - Schutz gegen Angriffe aus Schweden. Und eine, in der sich die Verwaltung des Gulag-Straflagers der Solowezki Inseln in Kem befand. Nach dem 2. Weltkrieg gab es ein Krankenhaus für deutsche Kriegsgefangene.
Die heutigen Bewohner Kems sind freundlich und hilfsbereit. Auch wenn man es ihnen nicht auf den ersten Blick ansieht. Sie lächeln nicht viel. Aber das ist nich untypisch für die russische Bevölkerung. „Wenn es nichts zu belächeln gibt, dann tun wir es auch nicht.“ lerne ich im Gespräch. „Aber dafür kannst du dir sicher sein, dass ein Lächeln ernst gemeint ist, wenn du doch eines bekommst.“ Und ein ernst gemeintes Lächeln ist schließlich auch viel schöner, als ein aufgesetztes.
Die Einwohnerzahlen Kems schwankten immer sehr. Ein Bevölkerungs-„Hoch“, mit circa 20.000, gab es in den Siebzigern. Seitdem nimmt die Zahl stetig ab. Junge Leute zieht es in die größeren Städte. Nach Belomorsk, Murmansk, Arkhangelsk oder Sankt Petersburg. Momentan hat Kem nur knapp über 10.000 Bewohner. Viele davon leben unter, an oder nur knapp oberhalb der Armutsgrenze.
Abseits der Hauptstraßen
Wir verbringen unseren Tag in Kem mit einer Stadterkundung. Wir schauen uns historische Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Statuen, Monumente, Gedenkstätten und verlassene Gebäude an. Und wir können dem Reiz nicht widerstehen, uns von den Hauptstraßen zu entfernen.
Die Straßen werden holpriger. Die Gebäude kleiner und baufälliger. Bei vielen frage ich mich, ob sie bewohnt sind, oder nicht.
Ab und an schießen wir Fotos. Weit ab der Hauptstraße spricht mich eine Frau an. Sie schaut unfreundlich und spricht schnell. Ich verstehe kein Wort und sie fängt an zu gestikulieren. Sie will mir dringend etwas zu verstehen geben. Sie zeigt in einige Richtungen und auch auf die Hütten, vor denen wir stehen und schüttelt den Kopf.
Arne kommt dazu. Er versteht ein bisschen Russisch und ist allgemein schneller von Begriff als ich: Wir sollen uns hier nicht aufhalten. Es sei gefährlich, sagt die Frau. Wir bedanken uns für den
Hinweis und machen uns wieder auf. In die Richtung aus der wir gekommen sind. Die Frau geht erst wieder ihres Weges, als sie uns auf dem Weg in Richtung Stadtmitte weiß. Sie schüttelt beim Gehen
den Kopf.
Kurze Zeit später werden wir erneut angesprochen. Diesmal von einem jungen Mann. Er kommt beim Sprechen unangenehm nah und mir ist, auch durch die Warnung der Frau, etwas mulmig zumute.
Ich erinnere mich an meine erste Nacht in Las Vegas. Was etwas absurd ist, da Kem und Las Vegas ungefähr so viele Gemeinsamkeiten haben wie Backsteine und Kartoffeln. Ich war damals mit meiner
Cousine unterwegs und wir hatten uns ein günstiges Hotel für die Nacht ausgesucht und gebucht. Es dauerte eine Ewigkeit (und kostete mehr als den regulären Preis) bis wir am Flughafen einen
Fahrer dazu bringen konnten, uns zum Hotel zu fahren. „We don´t go there.“ war die überwiegende Antwort. Anscheinend hatten wir uns ein Hotel in einer berüchtigten Gegend ausgesucht.
In diesem Moment in Kem fragte ich mich, ob ich wohl wieder in ein solches „there“ geraten war.
Aber meine Sorgen waren ganz unbegründet. Auch der Mann will nur, dass wir wieder sicher zum Stadtkern kommen. Er begleitet uns ein Stück. Wir sprechen Englisch/Russisch/Gestik und er erklärt, dass sich dieses Viertel nicht für Touristen eignet und wir als solche zu erkennen seien.
Na gut. Locals wissen es schließlich am besten. Wir fügen uns.
Playin´ it safe in Kem
Unser Programm setzt sich also auf „sicheren Wegen“ fort.
Wir schlendern am Ufer entlang, besuchen die große Holzkirche, auf die die Kemer sehr stolz sind und snacken Rote Beete Salat in einem der kleinen, gemütlichen und sehr günstigen kantinen-style Cafés, die in Russland so häufig sind.
Am Abend geht es für uns weiter. Vor uns liegt die lange Fahrt nach Murmansk.
Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, Kem ebenfalls nur als Durchgangsort genutzt zu haben.
Gut zu wissen
- Die nächstgelegenste Stadt, 48 km südlich, ist Belomorsk. Nach Petrosawodsk sind es 434 km.
- Von Kem aus verkehren mehrmals täglich Züge in nördlicher (->Murmansk) und südlicher (->St. Petersburg) Richtung.
- Kem liegt an der Fernstraße M18, die von Sankt Petersburg nach Murmansk führt.
- Alles was man für einen Kurzaufenthalt in Kem braucht, findet sich in direkter Bahnhofsnähe: Die Bushaltestelle der Busse in Richtung Solowezki-Fährhafen ist direkt gegenüber. Um den Bahnhof
herum verteilen sich mehrere kleine und ein größerer Supermarkt, ein Sushi-Restaurant und Gemüsehändler.
Das "Mini-Hotel" in Kem
Ein Hotel gibt es ebenfalls direkt gegenüber des Bahnhofs. Das "Mini Hotel Kem", Мини отель г.Кемь, in der ersten Etagen eines mehrstöckigen, grauen Hauses.
Das wichtigste zuerst: Benutze unbedingt den Seiteneingang (links vom Geldautomaten) und lass dich nicht von der unteren Etage und dessen Geruch abschrecken.
Die Rezeption ist ständig besetzt. Die Mitarbeiter sind freundlich und hilfsbereit, Sprachbarrieren haben wir mit G.-Translate gelöst.
Die Zimmer sind sehr klein und spärlich möbliert. In unserem gab es neben den Betten nur einen kleinen Beistelltisch und die Tür zum Balkon. Aber mehr brauchts ja eigentlich auch nicht.
Hinten im Gang gibt es Gemeinschaftsduschen und -toiletten , die sehr sauber sind (Toilettenpapier erhält man an der Rezeption!). Überhaupt scheint ständig jemand mit Staubsauger oder Wischer unterwegs zu sein.
Das Mini Hotel ist sehr einfach, dafür aber günstig und in der Lage nicht zu toppen. Toll ist die hostel-style Küche/Aufenthaltsraum: Es gibt alles, was man zum Kochen braucht und trinkbares Wasser.
Gegen eine kleine Gebühr kannst du Gepäck nach dem Check-out da lassen und später wieder abholen.
Text: Rike Jütte
Fotos: Arne Gerken und Rike Jütte
Zum Weiterlesen. Wir haben Kem in Russland im Zuge des Segeltrips 2015 besucht. Hier findest du weitere Beiträge zum Segeltrip:
- Segeltrip 2015: Zusammenfassung der Skandinavien Umsegelung
- Das Weiße Meer, die Solowetzkis und der Heimweg über Finnland nach Schweden
- Sturm im Weißen Meer - Von Archangelsk nach Solowetzki
- In Oslo. Nachts am Flughafen
- Depopulation meets Streetart in Nordostnorwegen
Danke fürs Lesen!
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