Kiruna auf Rädern - Wie versetzt man eine Stadt in der Arktis?

Kiruna auf Rädern - Reportage von Ekaterina Venkina

 

Gastartikel | Was passiert, wenn eine Stadt plötzlich auf Rädern landet? Und was, wenn sie dazu in der Arktis liegt? Ekaterina Venkina war unterwegs in der „company town“ Kiruna zwischen dem Fjäll und der Mine.

 

 

Kiruna ist Schwedens nördlichste Stadt. Sie liegt gut 140 Kilometer jenseits des Polarkreises. Karge Landschaften rufen Zeiten in Erinnerung, als die Samen mit ihren Rentieren hier noch frei wanderten.

 

Wie von diesem Nomadengeist getrieben, gerät diese Stadt jetzt selbst in Bewegung, wortwörtlich: Nach Nya Kiruna (Neu-Kiruna), rund vier Kilometer östlich, soll es gehen. Der Grund dafür ist die größte unterirdische Eisenerzmine der Welt. Sie liegt praktisch unter dem westlichen Stadtrand und frisst sich immer weiter vor. Etwa 6.000 Einwohner müssen den Ort verlassen.

 

Das wohl größte Umzugsprojekt der Welt ist bereits im Gange.


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Der Fjäll

Der Fjäll bei Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Der Fjäll bei Kiruna in Nordschweden.

 

„Wir sind schon immer mit der Rentierzucht beschäftigt gewesen – soweit wir zurückdenken können.“ Mathias Keinil, 41 Jahre alt, breit und etwas mollig, ist Same. Er wurde in Kiruna geboren und ist in Rautas, einem kleinen Dorf (ein Dutzend Häuser, zahlreiche Zwerg-Birken und ein unendliches Blaubeer-Meer) rund 20 Kilometer nördlicher, aufgewachsen. Mit 11 bekam er von seinem Großvater seine eigene Ohrmarke. Jeder Rentierbesitzer muss eine haben. Sie wird mit einem Messer in das Ohr des Kalbes geschnitten und kennzeichnet, wem es gehört.

 

In ganz Schweden leben rund 4,500 Rentierbesitzer. Allein in der Provinz Norrbotten gab es 2009 mehr als 141 Tausend Rene. „Wir haben keinen Einfluss auf sie. Es sind die Rentiere, die entscheiden, wo sie hinwollen. Wir helfen nur“, sagt er. Jeden Sommer ziehen sie nach Westen und jeden Winter – unvermeidlich, wie der Herzschlag der Natur – nach Osten.

 

Rentierzüchter Mathias Keinil | Foto: Ekaterina Venkina
Rentierzüchter Mathias Keinil.

 

Als Mathias über die Wanderrouten der Rene erzählt, leuchtet sein rundes gütiges Gesicht mit demselben milden Licht auf, das an einem Julitag von dem Fjäll, der skandinavischen Bergtundra, ausgestrahlt wird. Das Leben ist einfach. Ende August wird geschlachtet. Im Mai werden die neuen Kälber geboren. Das ist der Kreislauf des Lebens. Laut dem Rentierhalter gibt es nur drei Faktoren, die sich in diesen uralten Zyklus einmischen und zum plötzlichen Herzrasen führen können. Das seien Abholzung, Windparks und Bergbaubetrieb.

 

Die Mine

Aussicht über die Mine in Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Aussicht über die Mine in Kiruna.

 

Die Grube Kiruna existiert seit dem Jahr 1890. Eine gefühlte Ewigkeit.

Sie gilt als das größte unterirdische Eisenerz-Bergwerk der Welt. Luossavaara-Kirunavaara Aktiebolag (LKAB) ist das älteste staatliche Bergbauunternehmen Schwedens. Täglich, 365 Tage im Jahr wird in LKAB- Minen Eisenerz gefördert, das entspricht – gemessen an der Stahlmenge – ungefähr sechs Eiffeltürmen. Nicht zuletzt wegen des Bergbaus ist das Medianeinkommen in Kiruna sogar höher als in Stockholm. Auch Ungelernte können bei LKAB einen Bruttolohn von fast 4.500 Euro im Monat verdienen. Man hat sich an diese Sicherheit gewöhnt. Bisweilen zu sehr, so scheint es.

Seit Jahrzehnten verläuft das Leben von Kiruna zwischen dem Fjäll und der Mine. Diese zwei entgegengesetzten Kräfte haben die Stadt geformt.

 
Die Mine in Kiruna im Abendlicht mit Beleuchtung | Foto: Ekaterina Venkina
Die Mine Kirunas mit Abendbeleuchtung.

 

Am Abend leuchtet die Grube festlich, rund zwei Kilometer vor dem alten Zentrum entfernt, wie eine riesige Fähre. Über dem schornsteinähnlichen Lüftungsschacht stehen die Wolken, die an Rauchschwaden erinnern. „Die Decks“ sind von den feierlichen Glühbirnenketten eingerahmt. Die Mine liegt zu Anker.

 

"Wir leben hier in einer company town"

 

„Wir leben hier in einer Bergbaustadt. In einer company town,“ sagt Fredrik Björkenwall. Seit vier Jahren ist er in der Kommunikationsabteilung der LKAB. Björkenwalls Großvater war sein Leben lang Bohrer.

 

Heutzutage arbeiten in der Grube rund 500 Kumpel, insgesamt sind 4.200 bei dem staatlichen Bergbauunternehmen tätig. Etwa zehn Prozent der 18.000 Einwohner in Kiruna sind direkt von LKAB angestellt. Viel mehr arbeiten aber bei den zahlreichen Subunternehmen und Dienstleistern des Bergwerks.

 

Vom Berg verschluckt

Unter der Erde: Die Mine Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Unter der Erde: Die Mine Kiruna.

 

Jede Nacht, pünktlich um 01.20, sprengt man untertage. Zurzeit fördert LKAB Eisenerz auf einem Niveau von 1365 Metern unter dem früheren Gipfel von Kiirunavaara (der Berg des Schneehuhns - auf Samisch). Man hört das Grollen, spürt die Vibration. Die Detonationen haben etwas Chtonisches, sind aber Teil der täglichen Routine geworden. Es ist, als hätte man Jörmungandr, die Midgardschlange, gezähmt.

 

Rund 540 Meter unter der Erde ist die Luft feucht und lauwarm. Die Schatten tanzen phantasmagorisch an den Wänden. Gigantische stillgelegte Bohrmaschinen tauchen aus der Dunkelheit auf, wie schimmernde Blauwale. Die Temperatur bleibt das ganze Jahr konstant: angenehme 18 Grad. Empfindliche Technik erträgt keine arktische Kälte. In den 1980er Jahren lag hier die Abbau-Ebene. Seitdem hat sich die Mine mehr als achthundert Meter tiefer in die Erde gefressen. Auf dem verlassenen Gelände hat man 1996 ein Besucherzentrum eingerichtet.

 

Im Herzen von Kiirunavaara expandiert eine Parallelwelt. Es gibt hier eine unterirdische Kantine, einen Werkzeugladen, sogar einen Konferenzraum. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat sich hier wohl ein Mittagessen gegönnt, als er 2013 an der Tagung des Arktischen Rats in Kiruna teilnahm.

 

Geld ist schwarz

 

In dieser Parallelwelt dreht sich fast alles ums Geld. Auch wenn das Geld sich in Form vom apatithaltigen Magnetit manifestiert und schwarz ist. 2018 erzielte LKAB einen Gewinn von 6,7 Milliarden SEK (umgerechnet rund 628 Millionen Euro) vor Abzug von Steuern. Dafür musste das Unternehmen 26,8 Millionen Tonnen Eisenerzprodukte aus der Erde ausgraben. Pelletsprämien, Eisenerzpreise und Währungskurse – das sind die Faktoren, die maßgeblich für den Erfolg des Unternehmens ausschlaggebend sind.

 

„Wir haben hier einen einzigen durchgehenden Eisenerzkörper“, der sich um 60 Grad in Richtung Stadt neigt, sagt Fredrik Björkenwall. Es betrifft die Gesellschaft in dem Maße, dass es notwendig ist, „das abzubauen, was sich in der Nähe von der Mine befindet.“ LKAB ersetze die Häuser nach dem schriftlichen Gesetz und sorge dafür, dass die Produktion weiterlief.

 

Auf Rädern

Rasmus Norling am Bahnhof in Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Rasmus Norling am Bahnhof

 

Es ist, als beobachte man ein groteskes Puppenstubenspiel der Jötunnen, der altnordischen Riesen. Seit seiner Ankunft nach Kiruna 2018 hat Rasmus Norling es bereits mehrmals gemacht:

 

Man hebt ein Haus auf den Stahlbalken hoch, stellt es auf vier Räder und verlegt es dann mithilfe eines LKWs mit einer Geschwindigkeit von 5 km pro Stunde an einen anderen Ort. „Auf dem Weg soll jemand ständig darauf aufpassen, dass es nicht verrutscht“, sagt Norling.

 

Der 41-Jährige ist stellvertretender Kommunaldenkmalpfleger bei der lokalen Gemeinde. Er trägt einen hellblonden Pferdeschwanz mit vereinzelten grauen Strähnen und eine Menge philosophischer Gedanken in sich. Begeistert redet er von dem neuen Kulturmilieu, das in Neu-Kiruna entstehen wird.

 

Wie vom Winde verweht

 

Norling trauert ernsthaft und unverstellt um Snusdosan (Schnupftabakdose) und Spottkoppen (Speifontäne). So heißen die beiden Hochhäuser, die von dem berühmten britisch-schwedischen Architekten Ralph Erskine gebaut wurden und den Stadtumzug nicht überlebten. Beinahe fühlt es sich so an, als wären sie und Norling Teil eines Gangs; alte Gesellen, beste Kumpels.

 

Wegen des Umzugs haben viele in Kiruna gelernt, über die Dinge in Extremen zu denken. Man hat eine Art daguerreotypischer Weltsicht entwickelt. Ein Schwarz-Weiß-Sehen. Entweder überlebt deine Umgebung die Transformation, oder sie ist zerrissen, vom Winde verweht. Um sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, hatten die Einwohner fast 15 Jahre Zeit.

 

Genese des Umzugs

 

2004 schickte LKAB einen Brief an dem Gemeinderat, in dem das Unternehmen ihn zu seiner Vorstandssitzung einlud, um das Gremium über die kommenden Entwicklungen zu informieren. Die Minengesellschaft brauchte die Zustimmung der Verwaltung, dass die Wohngegend in der Nähe der Grube zum Industriegebiet verwandelt werden konnte. Erst dann sind dort Bergbauarbeiten erlaubt.

 

In Schweden verfügt die Gemeinde über das sogenannte kommunale Planungsmonopol (planmonopol). Dies bedeutet, dass eine Veränderung der Bodennutzung nur auf Grundlage eines kommunalen Plans erfolgt. Das grüne Licht von den Behörden für die Planänderungen erhält man in mehreren Etappen.

 

Sind die Kosten tatsächlich so hoch?

Die Mine in Kiruna mit Bauzaun und LKAB Logo im Abendlicht | Foto: Ekaterina Venkina
Die Mine mit Bauzaun.

 

Im Februar 2011 wurden zwei Verträge zwischen der Gemeinde Kiruna und LKAB unterzeichnet. Einer der Verträge war eine zivilrechtliche Vereinbarung, die die Kosten festlegte. Der andere beinhaltete eine Durchführungsvereinbarung. Sie regelte die Vorgehensweise bei der Umwandlung der Wohngegend in einen Park und schließlich in ein Industriegebiet.

 

Laut dem Abkommen sollte LKAB 85 Mio. SEK (7,8 Mio. Euro) für das Land und für die Umwandlung der Infrastruktur in den ersten Bergbaustadtpark zahlen. 2014 hat man eine weitere Vereinbarung getroffen. Sie setzte voraus, dass die Minengesellschaft noch 3,74 Mrd. SEK (346 Mio. Euro) in das zweite Parkgebiet investieren würde. Der dritte Vertrag wurde im Juni 2018 präsentiert. In diesem Dokument ist festgehalten, dass LKAB etwa 2 Mrd. SEK (185 Mio. Euro) an die Gemeinde als direkte Vergütung auszahlt. Der Schlussbetrag steht aber noch nicht fest, da die Summe von den gesamten Baukosten abhängig ist.

 

Bis 2035 will das Bergbauunternehmen mindestens 25,7 Mrd. SEK (2,4 Mrd. Euro) in die Gemeinde-Umwandlung einsetzen. Laut Fredrik Björkenwall sei dies „ein wesentlicher Teil“ von LKAB's Umsetzung. Wenn man aber den jüngsten Gewinn von mehr als 600 Mio. Euro berücksichtigt, wirkt seine Antwort nicht mehr als etwas Unzweifelhaftes.

 

Demokratie in Action?

 

Im Laufe der Zeit ist der Umzug auch für die Einwohner Realität geworden. Es ist der jeweilige Status quo, den man nicht hinterfragt. Wie die gelb- orangen Moltebeerenmoore im Sommer oder wie Polarlicht im Winter. Der eigentliche Umzugsort blieb aber eine Weile unklar.

 

„Es gab ursprünglich sieben verschiedene Stellen, die man als mögliche Optionen nannte“, sagt Dan Lundström. Seit Januar 2017 leitet er die Firma Kiruna Storytelling, die Staatsführungen mit dem Schwerpunkt auf urbane Transformation organisiert. Früher war er auch Vorsitzender der lokalen Mietervereinigung. „Allmählich war die Anzahl der Orte auf drei reduziert“, sagt er. Schließlich wählte man zwischen zwei Alternativen: Die Stadt nach Nordwesten zu verschieben, in die Nähe von Luossavaara (der Berg des Lachses - auf Samisch), oder rund vier Kilometer nach Osten.

 

Gunnar Selberg, Gemeinderat für die grünliberale Zentrumspartei, der zum Zeitpunkt der Debatte auch Teil der Gemeinderegierung war, erinnert sich sehr gut daran: „Eigentlich waren wir dafür, eine Volksabstimmung durchzuführen“. Wichtig wäre das nicht nur wegen der Einwohner gewesen, sondern hätte auch eine Möglichkeit sein können, verschiedene Alternativen im Einzelnen festzulegen. Aus dieser Idee ist aber nichts geworden. „Wir wurden nicht gehört.“

 

Die Ost-Alternative hat schließlich gewonnen, was laut Selberg eine rein politische Entscheidung war. Man hat die Leute von Kiruna nie gefragt, ob sie damit einverstanden sind.

 

Pflanzenähnlich

 

Zu den massiven Protesten ist es aber nie gekommen. Die Loyalität zu der Mine ist einfach zu hoch. Das Geld, das sie einbringt, ist sicher und solid. Zudem sind die meisten Einwohner von der Mission „Neu-Kiruna“ überzeugt. Den Umzug sehen sie als ein Aufbruch in eine bessere Zukunft. Unbequeme Fragen werden in dieser Euphorie zur Seite geschoben. Auf dem Radar leuchtet ein vielversprechendes Ziel: Das neue Zentrum.

 

2012 hat die Gemeinde einen internationalen Wettbewerb durchgeführt. White Arkitekter, eins der leitenden Architekturbüros in Schweden wurde beauftragt, an dem Masterplan zu arbeiten. Auch seine norwegischen Kollegen, Ghilardi + Hellsten Arkitekter, wurden als Kooperationspartner eingestellt. Beide hatten eine Vision: Sie wollten über das Jahr 2035, das von LKAB als Zeithorizont angegeben wurde, hinaus denken. „Kiruna-4- ever“ („Kiruna-für-immer“) hieß ihr Plan. Es geht um die Stadt, die sich stetig weiterentwickelt und wie eine Pflanze wachsen soll.

 

Als Erik Stenman, Partner bei Ghilardi + Hellsten Arkitekter, in einem Telefongespräch über das Konzept spricht, denkt er in Bildern: "Wir erstellen ein "Rückgrat", um welches die Stadt wächst. Danach wird sie sich in eine andere Richtung entwickeln, senkrecht weg von der Deformierungszone der Mine“, sagt Stenman.

 

„Grüne Finger“ und die zwei Gesichter Kirunas

 

Der Architekt redet begeistert über die sogenannten „grünen Finger“, die eine enge Verflechtung der Stadt und der drei Parkgebieten darstellen. Über die Sommer- und Winter-Antlitze von Kiruna. Über die einzelnen Bäume, die versetzt werden müssen, weil die Stadt jenseits der Anbaugrenze liegt, und die Vegetation nur karg ist.

 

"Man neigt oft dazu, über die Stadtumsiedlung so zu denken, als ob es nur um die Verlegung der Gebäude ginge“, sagt er. Das sei aber nicht wahr. „Alles dreht sich letztendlich und überwiegend um die Menschen.“ Man wolle ihnen den Schlüssel zur Veränderung ihrer Umgebung an die Hand geben.

 

"Wir leben alle am Rande"

Die Kirche in Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Die Kirche.

 

19 kulturell bedeutende Gebäude mussten ursprünglich von der Innenstadt von Kiruna in Richtung Osten verlegt werden. Vor kurzem wurde die Liste aber auf 39 Bauten erweitert. Dazu gehört unter anderem die Kirche. Ein sagenhaft schönes Holzbauwerk. Ein Zusammenspiel von Luft und Licht und aufprallender falunroter Farbe. Sie wurde nach Plänen des Architekten Gustaf Wickman gebaut. Er ließ sich wohl von den norwegischen Stabkirchen und samischen Koten inspirieren. Eventuell ginge es jetzt, sie als eine Einheit zu verlegen. Laut Experten wäre dies aber ein beispielloses Vorhaben. 

 

Bei dieser Umsiedlung wiederholt man solche Wörter, wie „beispiellos, ausnehmend, riskant“, allzu oft. Man geht vorsichtig voran, wie auf dünnem Eis - gibt auch Rasmus Norling zu. Er geht zügig durch die Stadt. Auf seinem Handy spielt ein Lied der Gruppe „Euskefeurat“. Der Refrain wiederholt sich echohaft: „Vi lever allihop på kanten av en grop“. „Wir leben alle am Rande einer Grube“. Norlings Schritt ist leise, leicht und schreitend. Es scheint, als tanze er einen Walzer mit den Gebäuden, die ihren jetzigen Platz bald auf ewig verlassen werden.

 

„Die Toten müssen ja auch mit“

 

In der Nähe des Krematoriums zeigt er auf einen geborgenen Gedenkhain. Dort hat man seit Jahrzehnten die Asche Verstorbener verstreut. Laut Gesetz soll man eine Vermischung der Asche unbedingt vermeiden. „Wie schaffen wir das? Die Toten müssen ja auch mit“.

Auch das nahegelegene Grab von Hjalmar Lundbohm wird versetzt. Er ist der erste Direktor der Minengesellschaft, der Gründungsvater von Kiruna.

  

Ohne ihn hätte die Stadt ihre heutige Identität wahrscheinlich nie entwickelt. „Die Mine war sein Lebenswerk“, sagt Norling. Dann schweigt er kurz. „Eine Weile war die Frage offen: Lassen wir ihn hier? Soll ihn seine geliebte Grube jetzt verschlucken?“

 

Zuletzt verschwand die Treppe

 

Norling geht weiter und bleibt dann abrupt vor einem schmutzigen Bauzaun stehen. Hinter der Absperrung liegt eine Industriebrache. Eine kahle Mondlandschaft. „Die Treppe verschwand zuletzt“, sagt er leise. Das alte Rathaus, das früher an dieser Stelle stand, wurde schrittweise abgerissen. Iglu hieß es. „Kirunabornas vardagsrum“, „das Wohnzimmer“, wie die Einheimischen es liebevoll nannten. Erst als es weg war, begriffen viele: Jetzt wird’s ernst.

 

Das neue Rathaus, der Kristall, steht bereits, ziemlich einsam, im zukünftigen Stadtzentrum. Seine Fassade ist mit italienischem Granit dekoriert. Die Steine wurden zum Polieren nach Texas geflogen. Die Aluminiumplatten kamen aus China. „Die Baukosten beliefen sich auf 600 Mio. SEK“ (56 Mio. Euro), sagt Lennart Lantto. Die Begeisterung lässt seine Augen funkeln. Er ist 66, jovial und herzlich. Seine Fingerkuppen sind wegen des Blaubeerpflückens schwarz verfärbt. Er hat seinen Urlaub unterbrochen, um über das Rathaus und seinen Favoriten, das nagelneue Kunstmuseum, zu erzählen. Seit einem Jahr ist Lantto Spezialberater im Bereich urbane Transformation mit dem Schwerpunkt auf Kunstfragen. Davor war er rund 15 Jahre lang als Kultursekretär bei der Gemeinde Kiruna tätig.

 

„Aller guten Dinge sind ... fünf“

Lennart Lantto und das Königspaar in Kiruna im Rathaus | Foto: Gemeinde Kiruna
Lennart Lantto und das Königspaar im Rathaus.

 

„Ich bin Teil der vier Ausschüsse gewesen, die sich konsekutiv mit dem neuen Kunstmuseum befassten und letztendlich scheiterten. Also begann ich langsam, die Lust zu verlieren. Jetzt ist aber der Traum wahr geworden. Aller guten Dinge sind ... fünf“, sagt er. Mit dem ersten Ausstellungsjahr ist Lannto aber unzufrieden. Es hätten viel mehr Aktivitäten geben können. Seine Messlatte liegt hoch.

 

Als er das neue Rathaus zeigt, führen seine Gedanken unwillkürlich zu dem Alten, dem Iglu. Nicht ganz ist es aus dem Gedächtnis geschmolzen. Unsichtbar ist es noch da. Auch dort durfte er eine Führung machen. Unvergesslich sei sie, da das schwedische Königspaar – Carl XVI. Gustaf und Silvia - Ehrengäste waren. Um der Königin ein besonders interessantes Gemälde zu zeigen, habe er sie sogar von den Säpo-Wächtern entführt. Als Lantto davon erzählt, entsteht erneut dieses fröhliche Funkeln

in seinen blauen Augen.

 

Die Bergehalden

Eine Gabione in Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Wo mal ein Haus stand... Eine Gabione. | Foto: Ekaterina Venkina

 

Die Mine gibt und die Mine nimmt. Fast zum Naturgesetz ist es in Kiruna geworden. Was die Grube aber noch hinter sich hinterlässt, sind die Bergehalden. Das ist nicht nur Bergbauabfall, der wie Krebsgeschwulst an den Abhängen wächst, sondern auch, im metaphorischen Sinne, die Menschen, die sie ausgespuckt hat, und die Probleme, die durch sie entstanden sind, auch wenn man über diese Unbequemlichkeiten eher ungern redet.

 

„Es war Samstagmorgen. Ich trank meinen Frühstückskaffee, draußen war es komplett still. Kein Kindergeschrei, gar nichts. Erst dann wurde mir schließlich klar, dass wir wirklich weg müssen“, sagt Åke Jönsson. Fast alle seine Nachbarn waren zu diesem Zeitpunkt schon umgezogen.

Er wirft einen langen Blick auf die Stelle, wo sein Haus früher stand. Eine Gabione, ein mit grauen Steinen gefüllter Drahtkorb ist das einzige, was an dieser Stelle noch zu sehen ist. Ein Werk des Gedenkens sollte sie sein. Es sieht aber eher wie alte Haut aus, die das Haus nach dem Entpuppen abgelegt hat.

 

Auf losem Grund

Umweltinspektor Åke Jönsson in Kiruna | Foto: Ekaterina Venkina
Umweltinspektor Åke Jönsson

 

In dem Viertel Ullspiran gab es mehrere dreistöckige Reihenhäuser mit insgesamt rund 200 Wohnungen. Sie wurden in den 1960er Jahren von LKAB für Familien mit Kindern gebaut. Åke Jönsson (55), Umweltinspektor aus Kiruna, hat mit seiner Partnerin und seinen zwei Söhnen, Dennis und Robin, rund 25 Jahre in so einem Haus gewohnt. Er erinnert sich noch gut daran, wie nach Robins Geburt ein Baum auf dem Innenhof gepflanzt wurde.

 

Kurz vor Weihnachten 2014 war Ullspiran an einem Punkt angekommen, an dem es kein Zurück mehr gab. Es war eines der ersten Viertel in Kiruna, das infolge der urbanen Transformation verschwand, es wurde komplett von der Mine verschlungen. Jönsson bekam von LKAB direkt daneben ein Ersatzhaus. 2023 soll es aber auch abgerissen werden. Wie es dann für ihn weitergeht, weiß Jönsson noch nicht. Am besten denkt er jetzt auch nicht daran.

 

Drei Kubikmeter vom „tauben Gestein“ pro Jahr

 

„Jährlich sind es pro Person rund drei Kubikmeter vom „tauben Gestein“, das von LKAB in Kiruna und von einer anderen Grube in Boliden ausgegraben werden“, sagt Jenny Nordmark. Die Künstlerin und Architektin aus Kalix in Nordschweden hat diese exakte Menge für ihre Gabionen-Ausstellung bei der Kunstakademie in Stockholm genau berechnet. Für sie sind die Installationen aus den Steinkörben das richtige Mittel, um Schattenseiten der Bergbauindustrie zu zeigen.

Und Schattenseiten hat sie viele. „Die geltenden Rechtsrahmen – das Mineralgesetz und das Enteignungsgesetz – sind für solche Fälle, wie Kiruna, nicht geeignet“, sagt der Gemeinderat Gunnar Selberg. Der Staat zeige LKAB nicht einmal, wie es seine Prioritäten setzen sollte und welche soziale Verantwortung es bei dem Umzug zu übernehmen hat. „Die Hauptmission ist es, Geld zu verdienen“.

 

Von Anfang hätte man einen staatlichen Koordinator einsetzten sollen. Jemand, der zwischen LKAB, der Gemeinde, der Provinzregierung und der Verkehrsverwaltung vermitteln könnte.

 

"Man ermutigt Einwohner, Kiruna zu verlassen"

 

Außerdem gibt es keine organisierten Bürgergruppen, die beim Prozess der urbanen Umwandlung eine beratende Funktion hätten. Einzelne Einwohner dürfen zwar ihre Einsichten mit der Gemeinde teilen, ihr Einfluss ist aber ziemlich begrenzt.

 

So wie im Fall von Åke Jönsson bestehe die Gefahr, dass man praktisch „die Menschen ermutigt, Kiruna zu verlassen“, sagt Selberg. Die Immobilienbesitzer bekommen von LKAB Geld für ihre Wohngebäude, und die Auszahlungen sind sogar höher, als der durchschnittliche Verkaufspreis in der Stadt. Sie reichen aber nicht, um einen Neubau in Kiruna zu kaufen. Für das Geld kann man aber Immobilien in anderen Städten, wie Kalix oder Luleå, erwerben und sogar Einsparungen für seine Zukunft machen. Wozu dann an diesem Ort zu bleiben?

 

Die deutsche Perspektive

David Dresen auf dem Bauernhof | Foto: Ekaterina Venkina
David Dresen auf dem Bauernhof

 

Als Kiruna in Lappland nicht ganz problemlos, aber mit viel Hoffnung und einer Vision in Richtung ihres neuen Zentrums morpht, entfaltet sich etwa 2,600 km entfernt, im Rheinland, ein anderes Szenario. Umgeben von dem Flüsschen Niers und dem Keyenberger Wald, liegt das Dorf Kuckum im Erkelenzer Gebiet am Rande eines Abgrundes. Der Abgrund sieht fast freundlich aus. Er hat ockerbraune wellige Kanten und die Form einer Kohlengrube.

 

Kuckum existiert bereits seit 1385 – lange bevor der Abgrund sichtbar wurde. Ein klassisches Dorf, das nicht konservativer sein könnte. Sonntags geht man in die Kirche. Abends trifft man sich auf eine Tasse Kaffee oder auf ein gemeinsames Brettspiel. Ländliche Idylle und Tierhaltung prägen das Bild. Schafe, Hühner, blühende Wiesen und gekrümmte Apfelbäume sind ein wichtiger Bestandteil der lokalen Identität.

 

2027 soll das alles aber verschwinden. Kuckum ist eines der fünf Dörfer, die RWE, der zweitgrößte Energieversorger Deutschlands, in dieser Gegend abbaggern will. Unter dem Boden der Ortschaft liegt Braunkohle. Um sie zu verstromen, hat der Konzern vor den Tagebau Garzweiler II zu erweitern.

 

In Ungewissheit gefangen

 

„Laut der jetzt geltenden Gesetzeslage sollen wir noch abgerissen werden“, sagt David Dresen (28), Bewohner aus Kuckum und Mitglied des nationalweiten Bündnisses „Alle Dörfer bleiben“. In acht Jahren ist Deutschland mit dem für spätestens 2038 beschlossenen Kohleausstieg bei weitem noch nicht fertig. Die Bundesregierung verhandelt jetzt mit RWE, welche Kraftwerke wann ausgeschaltet werden. Diese Entscheidung soll noch dieses Jahr getroffen werden. Die Landesregierung wird dann rund fünf Jahre brauchen, um eine neue Leitentscheidung zu erarbeiten und endgültig über das Schicksal der lokalen Dörfer zu bestimmen.

 

Dresen ist wegen dieser Ungewissheit besorgt. Alles um ihn herum – das rhythmische Ticken der rustikalen Uhr, solide Balken des aus dem 17. Jahrhundert stammenden Bauernhofs, gutmütige Pferde, die draußen grasen, – kommen mit dieser Unbestimmtheit in eine klare Dissonanz.

 

Seit vier Jahrhunderten haben seine Angehörige in Kuckum gelebt. Seine Oma Marlene Kopp, jetzt 82, hat ihr ganzes Leben auf der Hofstatt verbracht. Den Umzug in eine dafür designierte Neubausiedlung in einem Erkelenzer Stadtteil wird sie psychisch nicht verkraften. Damit geht wahrscheinlich ihre gesamte Lebensgeschichte verloren.

 

Der Untergang des Universums

Kuckum: Bei David Dresen im Bauernhaus | Foto: Ekaterina Venkina
Kuckum: Bei David Dresen im Bauernhaus

 

Für die Einheimischen bedeutet der Abbau den Untergang ihres ländlichen Universums. Es gibt hierbei kein „Wenn“ und kein „Aber.“ Anders als in Kiruna, sollen alle Kulturgüter in Kuckum, inklusive der alten Mühle, mehrerer Kirchen, Flurkreuze und zwei Wasserschlössen, komplett abgerissen werden.

 

Anders als in Kiruna, profitieren die Einheimischen „gar nicht“ von dem nächstgelegenen Tagebau, sagt Dresen. Nur rund 25 Prozent der RWE- Anteile gehören derzeit kommunalen Aktionären.

 

Parallel zu diesen Entwicklungen erleben manche Einwohner, die in Kuckum bleiben wollen, selbst eine Transformation. Das ist eine andere Art von Transformation als in Schweden. Es geht dabei um eine grundlegende innere Umwandlung. „Ganz viele Leute wachen plötzlich auf“, sagt Dresen. Sie fangen an, sich zu politisieren. Sie werden umweltbewusster und gewinnen neue Entschiedenheit.

 

Auch für ihn war es so, als er vor 2,5 Jahren aus Bonn nach Kuckum zurückkehrte, um „gegen Braunkohle zu kämpfen.“ Daraufhin gab er seinen Job als Lehrer auf. Sein Aktivismus koste ihn zu viel Zeit. Er müsse sich für eines von beiden entscheiden. 

 

Vor ein paar Jahren gab es für Kuckum keine Hoffnung. Nach dem „Fall Hambi“ habe man aber viel Rückenwind aus den aktivistischen Kreisen erhalten, so Dresen. Initiativen wie „Fridays for Future“ und „Ende Gelände“ haben das Dorf jetzt auf dem Schirm. Nur die Zeit wird aber zeigen, ob es das Schicksal von Kuckum wenden kann ...

 

Epilog

 

David Dresen wirft einen Blick auf die abendlich überschatteten Apfelbäume auf seinem Bauernhof. Er redet davon, „in Bürgerhand“ Energie zu produzieren, ein Photovoltaik-Projekt in Kuckum auf die Beine zu bringen. Er sagt: „Wir müssen bleiben und das Ökodorf der Zukunft werden.“

 

Noch ist der Nachklang des Polartags in Lappland zu spüren. Über Luossavaara, dem Berg des Lachses, steht die Abendsonne noch hoch. Sie leuchtet über den Fjäll und über die Mine. Sie leuchtet über Rasmus Norling und spiegelt sich in den Fenstern des nagelneuen Rathauses. Er sagt: „Wir dürfen bloß unsere Standards nicht senken. Neu-Kiruna soll seinen Traum als Vorzeigestadt leben.“


Ekaterina Venkina ist Journalistin aus Moskau, die ihren Schwerpunkt im Bereich Außenpolitik und Internationale Beziehungen hat. Sie begann ihre Karriere 2007 mit der Produktion von Hörspielen für das Radio. Zwei Jahre später wechselte sie zu einer großen russischen Nachrichtenagentur. Innerhalb der nächsten fünf Jahre sammelte sie Erfahrung als Nachrichtenredakteurin und Reporterin über verschiedene Formate und Grenzen hinweg (in den U.S.A., Großbritannien und Belgien).

 


Seit 2014 lebt sie in Bonn und ist Teil des Teams, das Inhalte für einen deutschen öffentlich-rechtlichen internationalen Sender produziert. Sie hat unter anderem für Die Süddeutsche Zeitung, die taz und das Ost Journal geschrieben.

 

Mehr von Ekaterina:

Die Süddeutsche Zeitung: Die Welt der jungen Russlanddeutschen

Die Süddeutsche Zeitung: Ein Wüstentrip machte Holger Wolff zum besseren Chef

Focus.de: Wie man das Druschba Desaster am Ende der Pipeline wahrnimmt   


Text: Ekaterina Venkina

Fotos: Ekaterina Venkina (Rechte bei Ekaterina Venkina)

Außer: Lennart Lantto und das Königspaar (Gemeinde Kiruna)

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